Noch nie waren so viele Menschen von Angststörungen betroffen wie heute. Schätzungen zufolge erlebt jeder Vierte mindestens eine Angstepisode in seinem Leben und gerade die aktuellen Weltgeschehnisse beschleunigen die Zahl der Erkrankten enorm. Die Corona-Krise ist noch nicht vorüber, Unwetterkatastrophen wie Stürme und Fluten gehen durch unser Land und nun kündigt sich mit dem Krieg in der Ukraine schon die nächste Krise an. All diese Ereignisse lösen bei vielen Menschen Gefühle von Angst verbunden mit einer Ohnmacht, Hilflosigkeit und Sorge vor den Folgen aus. Durch den immer weiter anhaltenden Krisenmodus erschöpft die mentale Wiederstandkraft bei vielen Menschen allmählich.
Wichtig: Symptome von Angst, Stress und Depressionen haben seit dem Frühjahr 2020 zugenommen. (Bundesministerium für Bildung und Forschung, 2020). Die Zahl der Hilfesuchenden mit psychischem Leiden steigt ebenfalls laut der Krankenkassen. (Techniker Krankenkasse, 2021)
Als Krise wird allgemein eine schwierige Situation oder auch der Höhe- bzw. Wendepunkt einer Lage bezeichnet. Auch im psychosozialen Sinn können nicht bewältigbare Ereignisse, Konflikte oder lebensverändernde Umstände ein seelisches Ungleichgewicht hervorrufen und zu einer Krise führen. Psychische Krisen sind Ausnahmezustände, in denen gewohnte Lösungsstrategien nicht mehr greifen. Oft drehen sich die Gedanken im Kreis, sind zerstreut und können nicht sinnvoll zu Ende gebracht werden. Gefühle wie Einsamkeit, Aggressivität, Hoffnungslosigkeit oder Trauer sind wahlweise schwer wahrnehmbar oder so intensiv, dass sie kaum kontrollierbar scheinen. Mit einem seelischen Ungleichgewicht ist häufig auch Angst verbunden, welche die kognitiven Funktionen blockiert, die Wahrnehmung einschränkt und das Finden neuer Strategien für die Situationsbewältigung erschwert.
Viele Menschen erleben durch die sich aktuell überschlagenden Ereignisse in der Welt eine Reihe von psychischen Belastungsfaktoren:
Eine weitere große Herausforderung liegt in dem Leben in unterschiedlichen Wirklichkeiten. Für viele Menschen scheint oberflächlich betratet trotz vieler Einschränkungen alles relativ normal zu sein. In ihrem Umfeld sind weder Häuser noch Geschäfte zerstört, die meisten Menschen, denen man begegnet, sind gesund und es gibt genügend Lebensmittel. Das Gehirn meldet: Keine unmittelbare Gefahr! Es gibt also einerseits den Alltag, der sich ruhig und ungefährlich anfühlt und anderseits eine Unmenge an Bedrohungen, die jeden Tag durch die Medien einströmen. Bilder und Berichte von Leid, Zerstörung und Eskalation, die kaum greifbar sind, da dies nicht unserem Bild der Wirklichkeit aus den letzten Jahrzehnten entspricht.
Empfindungen wie Panik, Sorge und Vorsicht erleben wir alle, je nachdem wie stark unser Angstsystem aktiviert ist. Obwohl das Spektrum bei jedem von uns vorhanden ist, unterscheiden sich die Sensitivität des Angstsystems sowie die Fähigkeit zur Verdrängung und Bewältigung sehr individuell. Bei einem sehr sensitiven Angstsystem handelt es sich um eine Angststörung. Die Ursache liegt hier sowohl in der Genetik, als auch in Erlebnissen der Vergangenheit. Krankheitsbilder wie die generalisierte Angststörung, die spezifisch gesundheitsbezogene Angststörung und die Zwangsstörung sind bei den aktuellen Weltgeschehnissen besonders aktiviert. Die Regulation von beispielsweise Ansteckungsängsten ist im Zuge dessen nicht mehr möglich. Wie stark die Angst in der Krise nun ist, hängt von folgenden Faktoren ab:
Grundsätzlich ist ein mittleres Angstniveau in der Krise optimal und sorgt für Handlungsfähigkeit. Zu viel Angst erschwert das lösungsorientierte Denken sowie Handeln, zu wenig Angst erzeugt keine Motivation tätig zu werden.
Angst ist zwar unangenehm, jedoch biologisch und soziologisch eine sehr wichtige Emotion. Sie schützt uns vor Gefahr und animiert uns zu Veränderungen sowie sozialem Verhalten. Jede Demonstration derzeit für Freiheit und Frieden, Spenden für Flüchtlinge und Bedürftige sowie Menschen die Unterkünfte bereitstellen, schweißen die Gesellschaft zusammen. Auch physisch hat Angst eine bedeutende Funktion: Durch gesteigerten Herzschlag, Atmung, Blutdruck und Muskelspannung sind wir eher handlungsbereit. Auch die Gerinnung des Blutes wird etwas gesteigert, sodass wir im Falle einer Verletzung weniger bluten. Die physische Reaktion bei Angst kann folglich lebensrettend sein. Sowohl für Menschen, die derzeit vor Krieg in ihrem Land fliehen, als auch für alle helfenden Hände im Zuge dessen, kann Angst eine Motivation für Veränderung in der Krise sein.
In unserem derzeitigen Alltag müssen wir mit vielen Unsicherheiten leben, es wird nicht möglich sein alle Bedrohungen zu eliminieren oder vorherzusagen, was die Zukunft bringt. Zwar kann ein Rückzug ins Private kurzfristig entlastend sein, die hohe Sensitivität des Angstsystems wird dadurch jedoch nicht besser – ganz im Gegenteil, sie steigert sich bei weniger Konfrontation mit der Realität. Damit das Leben auch in Krisensituationen nicht tagtäglich von übermäßigen Ängsten geprägt, können folgende Bewältigungsstrategien hilfreich sein:
Soziale Kontakte pflegen: Ob nun virtuell oder bei einem Spaziergang – über Ängste zu sprechen kann einen immensen Einfluss auf die Bewältigung haben
Struktur schaffen: Zu festen Zeiten aufzustehen und Schlafen gehen sowie Mahlzeiten zu sich zu nehmen oder Sport zu machen kann in Krisenzeiten Halt geben
Auszeiten nehmen: Nicht den ganzen Tag die Nachrichtenapp aktualisieren und mit dem Umfeld auch über andere Themen sprechen
Erholung finden: Meditation, Yoga oder Sport können den Geist zur Ruhe kommen lassen
Ressourcen stärken: Das Bewusst werden von eigenen Stärken und Fähigkeiten kann Sicherheit geben
Wenn all das keine Besserung verschafft ist es sinnvoll sich Unterstützung zu suchen. Ärzte, Psychotherapeuten oder Beratungsstellen können mit vielfältigen Angeboten in der Krise unterstützen.
Kategorien: Angststörungen