Binge Eating – Wenn die Seele hungert

Bei einem gemütlichen Filmabend auf dem Sofa passiert es fast jedem irgendwann mal, dass nach dem Abendessen noch die ganze Tüte Chips oder die gesamte Tafel Schokolade geleert wird. Häufige Folgen: Bauchschmerzen und ein schlechtes Gewissen. Unseren Kollegen und Freunden klagen wir am nächsten Tag, dass wir eine Fressattacke hatten. Doch war das wirklich eine? Handelt es sich hierbei schon um Binge Eating?

Binge Eating aus klinischer Perspektive

Die oben genannte Frage ist gar nicht so leicht zu beantworten. In unserer Überflussgesellschaft hadern viele Menschen ständig damit nicht zu viel zu essen, ernähren sich ungesund oder machen Diäten. Doch nicht jeder ist gleich an Binge Eating erkrankt. Aus klinischer Sicht ist das erst der Fall, wenn über einen Zeitraum von drei Monaten wöchentlich mindestens eine Essattacke auftritt. Darüber hinaus hat Binge Eating auch oft nichts mehr mit Genuss zu tun, den wir noch bei der ersten Tafel Schokolade nach dem Essen empfinden. Eine richtige Essattacke umfasst meist 4000 bis 10000 Kalorien. Die beschriebenen Mengen klingen für viele sicherlich gar nicht verzehrbar, jedoch dehnt sich der Magen im Laufe der Erkrankung immer weiter aus. Betroffene schlingen dabei die Nahrung übermäßig hastig in kürzester Zeit herunter und beschreiben das Essen wie eine Art Rauschzustand mit dem Gefühl es nicht mehr aufhören zu können. Meist findet die Essattacke erst ein Ende, wenn das Völlegefühl so stark ist, dass die Personen das Gefühl haben, sie bekommen keinen Bisschen mehr herunter oder verspüren schon starke Übelkeit. Unmittelbar danach treten meist Schuldgefühle, Ekel und große Scham auf.

Verlauf der Erkrankung

Immer wieder auftretende Scham und Schuldgefühle sorgen für ein geringes Selbstwertgefühl sowie meist auch einen schrittweisen sozialen Rückzug. Essattacken finden zwar grundsätzlich schon heimlich statt, jedoch wird auch das Essen oft in der Öffentlichkeit vermieden. Ín der Regel ist ein Verlauf bei einer Binge Eating Erkrankung sehr wechselhaft. Die Betroffenen schaffen es meist sich über Tage, Wochen oder gar Monate zu regulieren und verfallen dann wieder in Phasen mit stärkeren Symptomen. Dabei wird in Zeiten ohne Essattacken häufig versucht Diät zu halten um die Gewichtszunahme zu verhindern oder Gewicht zu reduzieren.

Wer ist betroffen?

Das Ersterkrankungsalter bei Binge Eating Betroffenen hat statistisch gesehen zwei Höhepunkte – einmal um das 20. Lebensjahr herum sowie nochmal zwischen 45 und 54 Jahren und ist damit deutlich höher als bei anderen Essstörungen wie der Bulimie oder Magersucht. Insgesamt sind derzeit rund drei Prozent der deutschen Bevölkerung an Binge Eating erkrankt. Genau wie bei allen anderen Essstörungen sind Frauen häufiger betroffen, jedoch ist das Ungleichgewicht, mit 3:2 zugunsten der Männer, zwischen den Geschlechtern deutlich geringer als bei anderen Essstörungen.

Verwechslungsgefahr! Unterschiede zu Bulimie und Adipositas

Binge Eating weist sowohl Parallelen mit der Krankheit Bulimie (Essattacken mit anschließender Kompensation) sowie auch Adipositas (starkes Übergewicht) auf. Da die drei Krankheitsbilder oft vermischt werden, sind im folgenden Unterschiede und Gemeinsamkeiten aufgeführt:

Körpergewicht

Während Betroffene von Binge Eating tendenziell eher Übergewicht haben, bewegen sich Bulimiker meist im Bereich des Normalgewichtes. Adipositas besteht wie bereits erwähnt erst bei starkem Übergewicht.

Essverhalten

Sowohl die Binge Eating Essstörung, als auch die Bulimie beinhalten regelmäßige Essattacken. Adipositas muss nicht zwingend durch solche Attacken entstehen.

Körperbild

Patienten mit Binge Eating und Bulimie haben genau häufig ein negatives Körperbild, wohingegen bei Adipositas nicht zwingend eine Unzufriedenheit mit dem eigenen Erscheinungsbild bestehen muss.

Kompensation

Bei Binge Eating werden keine kompensatorischen Maßnahmen ergriffen, was bei Bulimie unter anderem in Form von Erbrechen oder auch dem Gebrauch von Abführmitteln der Fall ist. Personen mit Adipositas unternehmen ebenfalls meist keine gewichtsregulierenden Maßnahmen bzw. nicht regelmäßig, weswegen das Übergewicht entsteht.

Wichtig: Adipositas ist im Gegensatz zu Binge Eating und Bulimie keine psychische Erkrankung und muss demnach nicht zwingend durch seelische Probleme ausgelöst werden.

Was verursacht Binge Eating?

Wie immer bei psychischen Erkrankungen sind die Ursachen auch bei Binge Eating sehr vielfältig. Sie setzen sich zusammen aus:

  • Psychologischen Gründen: Geringes Selbstwertgefühl, Unzufriedenheit mit der Figur, große Bedeutsamkeit des äußeren Erscheinungsbildes, Probleme bei der Emotionsregulation oder Konfliktbewältigung, Traumata, geringe Frustrationstoleranz, Unfähigkeit Gefühle wahrzunehmen uvm.
  • Sozialen Gründen: Umfeld mit gestörtem Essverhalten, wenig Unterstützung, Ausgrenzung, soziale Vergleiche uvm.
  • Biologischen / Körperlichen Gründen: Erhöhter BMI, häufige Diäten, Fehlregulation des Hypothalamus (Appetitkontrolle), niedriger Serotoninspiegel uvm.

Die genannten Ursachen treten häufig nicht alleine auf und bedingen sich gegenseitig. Essen dient den betroffenen Personen zunächst als gute Problemlösestrategie, ist jedoch auf Dauer enorm schädlich.

Gravierende Folgen für Betroffene

Wie bereits erwähnt zieht Binge Eating unbehandelt diverse Langzeitfolgen nach sich. Körperlich führen die Essattacken nicht selten zu chronischen Magen- und Darmproblemen. Gerade wenn Personen zusätzlich übergewichtig sind, steigt auch das Risiko für Diabetes, Herz-Kreislauf-Störungen und Gelenkprobleme. Auch Atem- und Schlafstörungen nehmen oft zu. Neben den körperlichen Folgen wird auch die Psyche oft noch weiter belastet. Die ständigen Schuldgefühle und die Scham birgen ein Risiko für Depressionen und Ängste sowie ein erhöhtes Suizidrisiko. Nicht selten werden auch soziale Kontakte und Interessen vernachlässigt, da das Thema Ernährung so viel Raum einnimmt. Ein darüber hinaus unterschätztes Risiko ist die finanzielle Belastung, die durch den hohen Nahrungsmittelkonsum entsteht. Die Vielfältigkeit der Folgen sowie auch der Schweregrad unterstreichen an dieser Stelle die Relevanz einer Behandlung der Erkrankung.

Hilfreiche Behandlungs- und Therapieformen

Wer das Gefühl hat, er kommt alleine aus der Binge Eating Störung nicht mehr raus, sollte sich dringend psychotherapeutische Unterstützung suchen. Hierbei sind bei stark ausgeprägter Symptomatik auch stationäre Aufenthalte ratsam um ausreichend Hilfe beim Wiedererlangen der Kontrolle über das eigene Essverhalten zu erhalten.

Als Therapieverfahren eignet sich die kognitive Verhaltenstherapie besonders bei dieser Erkrankung. Sie vertritt die Ansicht, dass Patienten das gelernte Essverhalten zur Regulation ihrer Gefühle auch wieder verlernen können bzw. sich bessere Strategien zur Bewältigung antrainieren können. Dabei sollte ganz individuell geschaut werden, was hinter dem übermäßigen Verlangen nach Nahrung steht. Oft führen die Patienten hierfür ein Ernährungstagebuch, um genau zu sehen welche Ereignisse oder Gefühle einen Essanfall auslösen. Die meisten Therapieangebote fokussieren außerdem viel Bewegung und geben den Patienten wieder mehr Selbstsicherheit.

Und um zum Schluss nochmal auf die Anfangsfrage zurück zu kommen: Wie bereits erwähnt erstreckt sich das Störungsbild von Binge Eating viel weiter als mal eine Tüte Chips oder Tafel Schokolade zu viel es zu essen. Es ist viel mehr die Regelmäßigkeit in der sowas passiert und die Gründe aus denen gegessen werden. In jedem Fall gibt es viel professionelle Unterstützung und es ist immer gut früh zu handeln damit keine der vielfältigen Langzeitfolgen eintreten kann.

Quellenangaben
  • Landesfachstelle Essstörungen NRWUniversität Bonn: https://www.landesfachstelle-essstoerungen-nrw.de/fileadmin/contents/Datenbank/Essstoerungen_-_Was_ist_das_BzgA.pdf, Abruf am 26.09.2022.
  • Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung: https://www.bzga-essstoerungen.de/habe-ich-eine-essstoerung/wie-haeufig-sind-essstoerungen/?L=0, Abruf am 26.09.2022.
  • Munsch, Simone; Wyssen, Andrea;  Biedert, Esther: Binge Eating: Kognitive Verhaltenstherapie bei Essanfällen. Weinheim, 2018.
Vanessa Graßnickel
Chefärztin, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Vanessa Graßnickel
Dr. med. Vanessa Graßnickel ist eine anerkannte Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie. Nach langjähriger Tätigkeit als Oberärztin übernahm sie 2024 die Position als Chefärztin der LIMES Schlossklinik Fürstenhof in Bad Brückenau. Dr. Graßnickel spezialisiert sich auf verhaltenstherapeutisch basierte Behandlungen und Suchtmedizin, fundiert durch ihr Medizinstudium an der Ruhr-Universität Bochum und einer umfangreichen fachärztlichen Ausbildung an der Universitätsklinik für Psychiatrie in Bochum. In ihrer Rolle als Chefärztin verbindet Dr. Graßnickel modernste diagnostische und therapeutische Methoden mit einer empathischen, respektvollen Patientenbetreuung sowie maßgeschneiderten Therapieplänen.

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