Identitätskrise – Eine Chance sich neu zu (er)finden?

Die Identitätskrise ist ein Phänomen, das viele Menschen irgendwann in ihrem Leben betrifft. Es ist eine Phase der Verwirrung, in der Fragen wie „Wer bin ich wirklich?“ und „Wo ist mein Platz in dieser Welt?“ aufkommen. Während es sich um eine herausfordernde Zeit handeln kann, birgt die Identitätskrise jedoch auch das Potenzial für Wachstum, Selbstentdeckung und persönliche Entwicklung.

Wenn das Leben Fragen aufwirft: Was ist eine Identitätskrise?

Eine Identitätskrise bezieht sich auf einen Zustand der Unsicherheit über die eigenen Werte und Ziele, die zuvor als selbstverständlich galten. Betroffene können das Gefühl haben sich selbst nicht mehr zu kennen oder nicht zu wissen, wohin sie im Leben gehen möchten. Eine solche Krise ist zwar ein natürlicher Teil des menschlichen Wachstums und der Selbstfindung, kann jedoch mit emotionalen Herausforderungen einhergehen und im schlimmsten Fall zu schwerwiegenderen psychischen Erkrankungen wie Depressionen oder Schlafstörungen führen. Grundsätzlich kann eine Identitätskrise jeden treffen, unabhängig von Alter, Geschlecht oder sozialem Hintergrund.

Anzeichen einer solchen Krise

Eine Identitätskrise ist ein individuelles Erlebnis und äußert sich nicht bei allen Menschen in gleicher Weise. Es besteht jedoch eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass eine Auswahl folgender Symptome auftritt:

  • Identitätskonflikt: Personen in einer Identitätskrise fühlen sich möglicherweise unter Druck gesetzt bestimmten gesellschaftlichen Normen oder Rollenbildern gerecht zu werden, die nicht mit ihrer wahren Identität übereinstimmen.
  • Emotionale Instabilität: Emotionale Höhen und Tiefen sind während einer Identitätskrise nicht ungewöhnlich, Betroffene können sich abwechselnd ängstlich, traurig, gereizt oder frustriert fühlen.
  • Rückzug oder Isolation: Eine Person in einer Identitätskrise neigt möglicherweise dazu sich zurückzuziehen und soziale Kontakte zu verringern, da sie sich unverstanden fühlt oder Schwierigkeiten hat sich anderen gegenüber zu öffnen.
  • Gefühl der Leere oder Sinnlosigkeit: In einer Identitätskrise können Betroffene das Gefühl haben, dass ihr Leben keine klare Bedeutung oder Richtung hat.
  • Suche nach externer Bestätigung: Während einer Identitätskrise wird oft versucht sich an den Erwartungen und Meinungen anderer zu orientieren, um Klarheit über die eigene Identität zu erlangen.
  • Unzufriedenheit mit dem aktuellen Lebensweg: Wenn der aktuelle Lebensweg nicht erfüllend ist, kommen oft Fragen über die berufliche Laufbahn, Beziehungen oder den Lebensstil auf und es werden Veränderungen angestrebt.

Was bringt uns aus der Bahn?

Nicht nur das “Wie“, auch das “Warum“ wird von jedem Betroffenen anders beantwortet. Folgende Faktoren sind jedoch besonders risikobehaftet in Hinblick auf die Entstehung einer Identitätskrise:

Lebensübergänge: Übergänge, wie der vom Jugendlichen zum Erwachsenen, der Eintritt ins Berufsleben, das Ende einer langjährigen Beziehung oder das Verlassen des Elternhauses, können eine Identitätskrise auslösen. Diese Veränderungen können eine Person dazu zwingen, sich mit neuen Rollen, Verantwortlichkeiten und Zielen auseinanderzusetzen.

Verluste und Rückschläge: Der Verlust eines geliebten Menschen oder ein schwerwiegender Misserfolg können das Selbstbild und die eigenen Überzeugungen infrage stellen. Infolge solcher Ereignisse kann eine intensive Suche nach dem Sinn des Lebens und der eigenen Identität beginnen.

Kulturelle Einflüsse: Gesellschaftliche und kulturelle Normen können ebenfalls eine Rolle bei der Entwicklung einer Identitätskrise spielen. Wenn eine Person das Gefühl hat den Erwartungen anderer nicht gerecht zu werden oder in bestimmte soziale Kategorien passen zu müssen, kann dies zu Konflikten mit der eigenen Identität führen.

Innere Konflikte: Interne Konflikte zwischen verschiedenen Aspekten der eigenen Persönlichkeit können ebenfalls zu einer Identitätskrise führen. Wenn zum Beispiel die eigenen Werte und Überzeugungen im Widerspruch zu den Erwartungen der Familie oder der Gesellschaft stehen, kann dies zu Unsicherheit und Verwirrung führen.

Selbstreflexion und persönliches Wachstum: Manchmal kann eine Identitätskrise auch sehr plötzlich auftreten, wenn eine Person beginnt tiefer über sich selbst und ihr Leben nachzudenken. Die Suche nach einem tieferen Sinn, die Frage nach der eigenen Lebensvision oder das Streben nach persönlicher Erfüllung können den Beginn einer Identitätskrise auslösen.

Wege zur Selbstfindung und persönlichen Entfaltung

Die Behandlung einer Identitätskrise beinhaltet eine Kombination aus Selbstreflexion, der Annahme von Unterstützung und dem Schaffen von genügend Raum für Veränderung. Es folgen einige Ansätze und Strategien, die helfen können, eine Identitätskrise zu bewältigen:

  • Selbstreflexion und Selbstentdeckung: Es ist wichtig sich Zeit zu nehmen um sich selbst kennenzulernen und die eigenen Werte, Interessen und Ziele zu erkunden. Es geht darum zu verstehen was einem wirklich wichtig ist und glücklich macht, wobei Aktivitäten wie Tagebuch schreiben, Meditation oder Kunst hilfreich sein können. Reflektiert werden sollten die Vergangenheit, Erfahrungen sowie Lebensentscheidungen um ein besseres Verständnis des Selbst zu entwickeln.
  • Akzeptanz und Geduld: Eine Identitätskrise ist ein natürlicher Teil des persönlichen Wachstums und es braucht Zeit um sich selbst besser zu verstehen. Es ist wichtig nachsichtig mit sich selbst zu sein und sich Raum für Veränderungen und Entwicklung zu geben.
  • Unterstützung suchen: Der Austausch mit vertrauten Freunden, Familienmitgliedern oder einem Therapeuten kann helfen Gefühle und Gedanken zu verarbeiten und neue Perspektiven zu gewinnen. Professionell geschulte Personen können darüber hinaus spezifische Techniken und Strategien anbieten um bei der Identitätsfindung zu unterstützen.
  • Neue Erfahrungen machen: Neue Interessen oder Hobbys können ebenso helfen neue Aspekte der Identität zu entdecken und die Perspektive zu erweitern. Auch wenn neue Möglichkeiten und Chancen oft mit Unsicherheit verbunden sind, gilt es offen für sie zu sein.
  • Selbstfürsorge: Während einer Identitätskrise ist es besonders wichtig die emotionale und körperliche Resilienz zu stärken und Entspannung, Bewegung, gesunde Ernährung und genügend Schlaf in den Alltag zu integrieren.
  • Mentoren oder Vorbilder suchen: Inspirierende Personen oder Vorbilder können dabei helfen den richtigen Weg für sich selbst zu finden. Das können auch Menschen sein, die ähnliche Herausforderungen durchlebt haben oder die bereits den Weg der Identitätsfindung erfolgreich gemeistert haben.

Warum Identitätskrisen auch eine Chance sind…

Das Wort “Krise“ lässt schnell vermuten, dass es sich um eine kräftezehrende Zeit der Betroffenen handelt und es nur das Ziel sein kann diese schnellstmöglich zu überwinden. Ganz falsch ist das nicht, denn für jedes Wachstum braucht es ein gewisses Maß an Anstrengung und wie bereits erwähnt Geduld und genügend Raum. Um diesen Schritt nun leichter zu gestalten kann es helfen eine solche Identitätskrise ebenfalls als Chance zu betrachten, denn nur wer sich bewusst mit sich selbst auseinandersetzt kann authentisch und erfüllt leben. Eine solche Krise eröffnet darüber hinaus die Möglichkeit ganz bewusste Entscheidungen zu treffen, das Leben aktiv zu gestalten und auch bisher bestehende Grenzen zu erkennen und zu überwinden, woraus wiederum ein höheres Maß an Stärke resultiert. Identitätskrisen können zuletzt dazu führen, dass mit Bedacht nach Beziehungen gesucht wird, die auf Echtheit und gegenseitigem Verständnis basieren. Denn erst wenn man sich selbst besser versteht und akzeptiert, ist man auch in der Lage erfüllende zwischenmenschliche Beziehungen aufzubauen.

Quellenangaben
  • Conzen, Peter: Die bedrängte Seele: Identitätsprobleme in Zeiten der Verunsicherung. Stuttgart, 2017.
  • Hasters, Alice: Identitätskrise. Warum Zweifel der Beginn von Neuerfindung ist – für uns und unsere Gesellschaft. Berlin, 2023.
  • Petzold, Hilarion G.: Identität: Ein Kernthema moderner Psychotherapie. Wiesbaden, 2012.
  • Schrader, Sabine: Psychologie: Allgemeine Psychologie, Entwicklungspsychologie, Sozialpsychologie. München, 2008.
Vanessa Graßnickel
Chefärztin, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Vanessa Graßnickel
Dr. med. Vanessa Graßnickel ist eine anerkannte Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie. Nach langjähriger Tätigkeit als Oberärztin übernahm sie 2024 die Position als Chefärztin der LIMES Schlossklinik Fürstenhof in Bad Brückenau. Dr. Graßnickel spezialisiert sich auf verhaltenstherapeutisch basierte Behandlungen und Suchtmedizin, fundiert durch ihr Medizinstudium an der Ruhr-Universität Bochum und einer umfangreichen fachärztlichen Ausbildung an der Universitätsklinik für Psychiatrie in Bochum. In ihrer Rolle als Chefärztin verbindet Dr. Graßnickel modernste diagnostische und therapeutische Methoden mit einer empathischen, respektvollen Patientenbetreuung sowie maßgeschneiderten Therapieplänen.

Diesen Beitrag teilen