Mentales Training im Leistungssport – Sportpsychiatrie und -psychotherapie

Das Streben nach sportlichem Erfolg lässt keinen Platz für das Zeigen von Schwäche. Zu groß ist die Angst zu versagen, vor Stigmatisierung und die Disziplin, die eigenen Bedürfnisse hinten anzustellen. Dabei sind auch Leistungssportler nicht weniger häufig als die übrige Bevölkerung von psychischen Erkrankungen betroffen. Nahezu täglich anstrengende Trainingseinheiten, der permanente Fokus auf dem nächsten Wettkampf und das Ziel Höchstleistungen abrufen zu können, werden sehr schnell zu chronischen Stressfaktoren. Mögliche Folgen sind Depressionen, Schlaf- oder Essstörungen sowie Angststörungen.

Als der Nationaltorhüter Robert Enke im Jahre 2009 Suizid beging, wurde auch in der Öffentlichkeit nochmal mehr deutlich, wie die strengen Leistungsvorgaben Profisportler unter Druck setzen können. Dieses und weitere prominente Beispiele waren der Startschuss zum Umdenken im Umgang mit psychischen Erkrankungen im Leistungssport. Die Geburtsstunde des Fachbereiches der Sportpsychiatrie und -psychotherapie.

Wichtig: Durch den steigenden Wettbewerb und die immer höheren Leistungen im Sportsektor wächst die Bedeutung der psychologischen Fähigkeiten. Bereits 1980 wurde der  Anteil der psychologischen Variablen an der sportlichen Leistung auf 20 bis 45% geschätzt.

Was wollen Sportpsychiatrie und -psychotherapie im Leistungssport?

Im Training geht es häufig darum, die eigenen Grenzen zu überwinden und Anzeichen von Erschöpfung zu ignorieren. Es ist ein schmaler Grat zwischen dem Erreichen des optimalen Leistungsniveaus und dem gleichzeitigen Schutz der mentalen Gesundheit. Man könnte meinen, gerade die Trainer der Sportler könnten Probleme frühzeitig erkennen, jedoch sind gerade diese häufig im Rollenkonflikt gefangen (Sportliche Ziele und Leistungsoptimierung). Aus dem Grund suchen die Athleten häufig erst einen Sportpsychiater oder –psychotherapeuten auf, wenn die Erkrankung die sportliche Leistung stark einzuschränken beginnt.

Ab diesem Zeitpunkt hat der Fachbereich den Auftrag, psychische Krisen und Erkrankungen zu erkennen, zu behandeln und ihnen künftig vorzubeugen. Die Sportpsychiatrie beschäftigt sich also sowohl mit der Frage wie Sport und Bewegung bei psychischen Erkrankungen als Therapiemaßnahme eingesetzt werden können, als auch mit den schädigenden Auswirkungen des Leistungssports auf die seelische Gesundheit. Mit ihrer Arbeit wollen Sportpsychiater und Therapeuten zu folgendem beitragen:

  • Akzeptanz, Diagnostik und Behandlung der psychischen Belastungen im Leistungssport
  • Routinemäßige psychiatrische Untersuchungen und Beratungen in der sportlichen Laufbahn
  • Ausbau der Präventionsmöglichkeiten
  • Verbesserung der interdisziplinären Zusammenarbeit von Sportpsychologen, Medizinern, Mentaltrainern und Physiotherapeuten
  • Mehr Verantwortungsübernahme der Athleten für die eigene seelische Gesundheit

Psychische und soziale Belastungen

Leistungssport zu betreiben, schließt nicht nur die Entscheidung ein, sich mit anderen zu messen, sondern bedeutet vor allem jeden Tag gegen sich selbst anzutreten. In den meisten Sportarten wird inzwischen immer früher mit einem intensiven und systematischen Training begonnen, weswegen Sportler bereits im präpubertären Alter schon vielen Belastungen ausgesetzt sind. Besonders ästhetische Disziplinen haben ihren Leistungshöhepunkt wegen der Körperproportionen in der Jugendzeit.

Der Fokus auf die körperliche Leistung schränkt nicht selten das Sammeln von Erfahrungen in sozialen und emotionalen Bereichen ein. Die Athleten sind zudem häufig rein von erwachsenen Bezugspersonen umgeben. Diese Faktoren machen sie gerade in Krisensituationen und bei einem plötzlichen Karriereende anfällig für psychische Erkrankungen. Per Mertesacker, der zuletzt beim FC Arsenal in London spielte, berichtete von seinen Belastungen wie folgt: „Wenn ich nicht mehr konnte, war ich verletzt, so war es immer. Ich behaupte sogar, dass viele wiederkehrende Verletzungen psychisch bedingt sind. Dass der Körper der Seele damit zu Ruhe verhilft. Aber das hinterfragt niemand“.

Zudem sind Athleten gerade bei großem Erfolg hohen sozialen Erwartungen ausgesetzt. Man stelle sich den entscheidenden verschossenen Elfmeter bei einer Europameisterschaft vor, bei dem Millionen von Menschen zusehen. Nicht selten gibt es in solchen Situationen verbale oder körperliche Angriffe auf die Sportler. Der schnelle Wechsel zwischen Verehrung und Missachtung sorgt für ein schwer vereinbares Gefühlspektrum zwischen Grandiosität und Minderwertigkeitsgefühlen.

Der Preis des Erfolges wird nicht zuletzt mit einem mangelnden Privatleben erkauft. Magdalena Neuner, eine sehr erfolgreiche Biathletin entschied sich sogar mit gerade mal 24 Jahren ihre sportliche Karriere zu beenden, um ihr Leben wieder zurück zu erlangen. Genauso belastend können auch nachlassende körperliche Fähigkeiten im Alter und das Bewusstsein, dass der Karrierehöhepunkt schon im ersten Drittel des Lebens erreicht ist, sein.

Sportspezifische psychische Störungen

Besonders oft im Leistungssportbereich vertretende psychische Störungen:

  • Sport-Anorexie: Die Gewichtsabnahme und Untergewicht dienen einem sportlichen Leistungsvorteil. Häufig beobachtbar in ästhetischen Sportarten wie dem Eiskunstlauf, Turnen, oder der rhythmischen Sportgymnastik.
  • Adipositas Athletica: Durch die erhöhte Körpermasse und einem Gewicht über dem „athletischen Normalwert“ wird angestrebt, die Kraft oder Ausdauer zu steigern. Beispiele finden sich im Sumōringen oder Freiwasser- und Langstreckenschwimmen.
  • Athletinnen-Trias: Symptomtrias aus einer Essstörung, ausbleibender Regelblutung und Osteoporose durch mangende Energie- und Nährstoffzufuhr. Ebenfalls gehäuft in ästhetischen Sportarten wie Bodenturnen, Ballett oder Ausdauerdisziplinen.
  • Sport-Bulimie: Nach Essanfällen folgt statt dem Erbrechen das exzessive Sporttreiben bis zur Erschöpfung um die Kalorien wieder zu verbrennen.
  • Dementia pugilistica: Unterschiedlich ausgeprägte Funktionsstörung des Gehirns, der häufige Schläge und Erschütterungen des Kopfes, zugrunde liegen. Gerade Boxer sind betroffen.
  • Sportsucht: Betroffene verspüren den Zwang exzessiv Sport zu treiben, wobei der Wettkampfgedanke oder die Leistung nicht das vorrangige Motiv sein müssen.
  • Depressionen durch das Übertrainingssyndrom: Mangelnde Regeneration zieht nicht selten eine gedrückte Stimmung, verminderten Antrieb sowie Interessenverlust und vielfältige körperliche Symptome wie Schlaflosigkeit oder Appetitstörungen nach sich.

Sportpsychiatrische und –psychotherapeutische Behandlung

Die psychiatrischen und psychotherapeutischen Behandlungsmaßnahmen richten sich maßgeblich nach dem Trainingskalender und den Rahmenbedingungen der Athleten. Jedoch sollte das gesamte Trainerteam der Sportler einbezogen werden und die psychische Genesung in der Therapiezeit mehr Gewicht als die sportlichen Leistungen erhalten. Dies fällt oft sehr schwer, doch ist Grundvoraussetzung für die Genesung. Wie auch in jeder anderen therapeutischen Behandlung bilden die Aufklärung und der Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung den Grundbaustein. Darauf aufbauend kann am Umgang der Athleten mit der eingeschränkten körperlichen Leistungsfähigkeit gearbeitet werden.

Oftmals ist durch die psychische Belastung das Vertrauen in die eigenen körperlichen Fähigkeiten stark reduziert. Wie viel die Athleten während der Behandlung trainieren sollten, richtet sich immer nach der Art und dem Schweregrad der Erkrankung. Nicht selten berichten Sportler, dass Symptome wie Lustlosigkeit, Ermüdung und Ängste während den Trainingseinheiten verschwunden sind und erst danach wieder auftreten. Besonders in der Sportpsychotherapie wird meist eine verhaltenstherapeutische Behandlung gewählt, da ihre problemorientierte Herangehendweise mit dem Training neuer kognitiver, emotionaler und Verhaltensstrategien dem der körperlichen Fähigkeiten ähnelt.

Psychodynamische Langzeitbehandlungen werden oft erst nach dem Karriereende gewählt. Gerne werden auch die Rehabilitationszeiten nach körperlichen Verletzungen oder die Zeiten zwischen Wettkämpfen ausgesucht, um mehr Fokus auf die Therapie zu erlangen. Zu beachten ist, dass nicht alle Medikamente aufgrund von Dopingbestimmungen und Nebenwirkungen (Gewichtszunahme, Schläfrigkeit, Übelkeit etc.) begleitend zum Einsatz kommen können.

Präventionsmöglichkeiten

In Anbetracht der herausfordernden Behandlung neben dem strikten Trainingsplan sowie den sportlichen und finanziellen Nachteilen für Sportler und Vereine, sollte die Prävention psychischer Erkrankungen  oberste Priorität haben. Geeignete Maßnahmen sind hier:

  • Eine stetige Überwachung und Anpassung von Spielregeln, Sportgeräten und Sportkleidung (vor allem dem Kopfschutz)
  • Eine frühe Aufklärung im Jugendalter über mögliche psychische Belastungen und Sensibilisierung gegenüber Anzeichen eigener Erkrankung
  • Eine Erweiterung des Angebotes an Stressverarbeitungs- und Resilienztrainings
  • Die Einführung regelmäßiger sportpsychiatrischer Gespräche im Rahmen der allgemeinmedizinischen Untersuchungen
  • Vermittlung von sportpsychiatrischen Grundkenntnissen an im Leistungssport tätige Berufsgruppen wie Sportmediziner, Sportpsychologen, Physiotherapeuten, Mentaltrainer
  • Eine adäquate Beratung der Eltern (bei jüngeren Sportlern) als wichtige Bezugspersonen in der Karriere

Die Bandbreite an präventiven Handlungsoptionen zeigt, dass es vielfältige Handlungsoptionen und Verbesserungsmöglichkeiten für die psychische Gesundheit im Leistungssport sowie dringenden Handlungsbedarf gibt. Es ist die Aufgabe des gesamten Sportsystems, in Zukunft gemeinsam die Sportler besser zu schützen und so auch für eine langfristig garantierte Leistungsfähigkeit zu sorgen, da die körperliche Gesundheit mit der seelischen Gesundheit Hand in Hand geht.

Quellenangaben

Markser, Valentin Z.; Bär, Karl-Jürgen: Seelische Gesundheit im Leistungssport. Stuttgart, 2019.

University of Zurich: https://www.zora.uzh.ch/id/eprint/214827/1/2020-6___Leading_Opinions.pdf, Abruf am 27.05.2022.

Kategorien: Therapie

Vanessa Graßnickel
Chefärztin, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Vanessa Graßnickel
Dr. med. Vanessa Graßnickel ist eine anerkannte Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie. Nach langjähriger Tätigkeit als Oberärztin übernahm sie 2024 die Position als Chefärztin der LIMES Schlossklinik Fürstenhof in Bad Brückenau. Dr. Graßnickel spezialisiert sich auf verhaltenstherapeutisch basierte Behandlungen und Suchtmedizin, fundiert durch ihr Medizinstudium an der Ruhr-Universität Bochum und einer umfangreichen fachärztlichen Ausbildung an der Universitätsklinik für Psychiatrie in Bochum. In ihrer Rolle als Chefärztin verbindet Dr. Graßnickel modernste diagnostische und therapeutische Methoden mit einer empathischen, respektvollen Patientenbetreuung sowie maßgeschneiderten Therapieplänen.

Diesen Beitrag teilen