Ist ein Trauma vererbbar?

So vieles ist erblich: Die Haarfarbe, Augenfarbe, Form des Gesichts, Blutgruppe – und neuste Forschungsergebnisse behaupten sogar auch Traumata! Kann es wirklich sein, dass Krieg, Gewalt, Unfälle und Naturkatastrophen unserer Vorfahren immer noch solche Auswirkungen auf unsere eigene psychische Gesundheit haben?

Neben körperlichen Merkmalen können unsere Vorfahren auch seelische Lasten an uns weitergeben – dieses Phänomen wird als transgenerationale Weitergabe bezeichnet. Forschungen legen nahe, dass traumatische Erfahrungen aus der Vergangenheit, die Eltern und Großeltern erlebt haben, als unbewusste Spuren auf die nächsten Generationen wirken und das Leben und das emotionale Wohlbefinden beeinflussen. Diese unsichtbare Erbschaft zeigt sich oft in Form von diffusen Ängsten und einer erhöhten Empfänglichkeit für psychische Belastungen.

Das Wichtigste in Kürze für Schnellleser

  • Traumata können vererbt werden – Traumatische Erlebnisse von Eltern und Großeltern können psychische Belastungen bei Nachkommen verursachen (transgenerationale Weitergabe).
  • Epigenetische Veränderungen als Ursache – Traumata hinterlassen Spuren im Erbgut, die die Anfälligkeit für Stress und Angst bei den folgenden Generationen erhöhen.
  • Elterliches Verhalten prägt ebenfalls – Eltern geben ihre traumatischen Erfahrungen auch durch Verhaltensmuster und emotionale Reaktionen an ihre Kinder weiter.
  • Therapien können helfen – Methoden wie EMDR und kognitive Verhaltenstherapie unterstützen Betroffene dabei, vererbte Traumata zu verarbeiten.
  • Hoffnung durch Forschung – Neue Studien zeigen, dass sich das Erbgut und die seelische Gesundheit durch Therapie langfristig erholen können.

Was unterscheidet Stress von einem traumatischen Erlebnis?

Stress kann sich in vielerlei Hinsicht zeigen: Leichter Stress, wenn wir auf den letzten Drücker zu einem Termin hetzten. Chronischer Stress, wenn wir tagtäglich zu viele Aufgaben auf der Arbeit erfüllen müssen oder überfordert sind mit einem Haushalt der gemacht werden möchte, Kinder, die gleichzeitig versorgt werden wollen und Angehörige die gepflegt werden müssen. Letzteres erhöht das Risiko für eine psychische Erkrankung wie Depressionen oder Angststörungen enorm. Aber all das lässt kein Trauma entstehen. Ein wirkliches Trauma beschreibt ein Erlebnis, was schwer zu verkraften und mit Angst und Hilflosigkeit verbunden ist, wie ein Unfall, Krieg oder eine Vergewaltigung. Es zeichnet sich durch belastende Erinnerungen, Schuldgefühle oder Gedankenkreisen aus und übersteigt die individuellen Verarbeitungsmöglichkeiten.

Transgenerationale Traumata – wenn man es nicht selbst erlebt hat

Während ein persönliches Trauma aus eigener Erfahrung entsteht, können transgenerationale Traumata ohne direkte Erlebnisse auftreten. Menschen, die an vererbtem Trauma leiden, entwickeln ähnliche Symptome wie Betroffene eines echten Traumas – wie Angst und anhaltende Anspannung –, ohne dass ein konkretes traumatisches Erlebnis in ihrem Leben stattgefunden hat. Sie tragen gewissermaßen die emotionalen Erfahrungen ihrer Eltern oder Großeltern in sich, was das Erkennen und Behandeln erschwert.

Vom Trauma zur Posttraumatischen Belastungsstörung

Nach einem traumatischen Erlebnis, was über einen längeren Zeitraum hin nicht bewältigt werden kann, entwickelt sich nicht selten eine sogenannte posttraumatische Belastungsstörung. Diese ist gekennzeichnet durch folgende Merkmale:

  • Unwillkürliches Wiedererleben des Traumas (z.B. in Form von Albträumen oder sich aufdrängenden Erinnerungen)
  • Vermeidung von bestimmten Erinnerungen, Situationen oder Menschen, die an das Erlebte erinnern (bewusst oder unbewusst)
  • Interessenverlust, sozialer Rückzug und starke negative Emotionen (wie Wut, Trauer oder Einsamkeit)
  • Erhöhte Wahrnehmung von Bedrohungen (begleitet von Anspannung und Konzentrationsproblemen)

Insgesamt sind Betroffene oft nicht mehr in der Lage, ihren Alltag zu bewältigen. Dazu kommt, dass es zu Beginn häufig nicht leicht ist, die richtige Diagnose zu stellen, da die Symptome anderen Krankheitsbildern wie Depressionen oder Panikstörungen sehr ähneln.

Die Macht von Umwelteinflüssen auf unsere Gene

Ein Glück entwickelt sich nicht aus jedem Trauma eine posttraumatische Belastungsstörung. Jedoch wird in der Wissenschaft aktuell stark diskutiert, ob ein Trauma auch zu sogenannten epigenetischen Veränderungen des Erbguts führen kann, was bedeutet, dass es zu chemischen Veränderungen der Struktur bzw. des Zustandes der DNA kommt. Dass eine solche Veränderung der Gene durch traumatisierende Erlebnisse möglich ist, zeigen bereits viele Forschungen in diesem Bereich. Beispielsweise ist nachgewiesen, dass Kinder von Personen, die die Gräueltaten der roten Khmer oder den Vietnamkrieg erlebt haben, eine erhöhte Depressions- sowie Suizidrate besitzen. Eine sehr aktuelle und bekannte Publikation zu dem Einfluss von Traumata auf die Gene stammt von einem Forschungsteam der Professorin Rachel Yehuda in New York. Hierbei wurden jüdische Personen untersucht, die im zweiten Weltkrieg in einem Konzentrationslager gefangen waren, gefoltert wurden oder sich verstecken mussten. Das Team stellte fest, dass das Gen FKBP5, was für das Stresshormonsystem zuständig ist und mit Depressionen in Verbindung gebracht wird, im Gegensatz zu Personen aus jüdischen Familien, die sich während des Krieges außerhalb von Europa befanden, Veränderungen aufwies.

Auswirkungen von Stress und Traumata während der Schwangerschaft

Die Rolle der Mutter während der Schwangerschaft ist ein weiterer Faktor bei der Weitergabe von traumatischen Erfahrungen. Emotionale Belastungen und Ängste, die eine Mutter erlebt, wirken sich auf die Entwicklung des Kindes aus. Studien zeigen, dass Mütter, die durch traumatische Erlebnisse selbst erhöhten Stress erfahren, diesen unbewusst an das Kind weitergeben. Diese pränatalen Einflüsse können dazu führen, dass Kinder später im Leben eine größere Anfälligkeit für Ängste und stressbedingte Störungen entwickeln.

Zur Info: Der Begriff Epigenetik beschreibt die Einflüsse von Lebensstil und Umwelt auf die Gene. Diese können zum Teil von einer Generation zur nächsten vererbt werden.

Und wie werden Traumata nun an die nächsten Generationen weitergegeben?

Sowohl bei den Kindern von Personen, die sich im Vietnamkrieg befanden, der roten Khmer zum Opfer fielen, als auch bei den Kindern der traumatisierten Holocaust-Überlebenden, wurden epigenetische Veränderungen festgestellt. Für die Nachkommen der Teilnehmenden der Traumastudie bedeutete dies konkret eine Veränderung des Stressgens und eine höhere Ängstlichkeit sowie Anfälligkeit für stressbedingte Krankheiten wie Depressionen, Angststörungen oder kardiovaskuläre Erkrankungen. Einige Wissenschaftler kritisieren solche Befunde jedoch aufgrund der geringen Teilnehmerzahlen und der Tatsache, dass einige Erkrankungen, wie bipolare Störungen, über Generationen in Familien auftreten ohne bisher ein verantwortliches Gen gefunden zu haben. Sie betonen, dass die Bandbreite an Faktoren, die bei der Vererbung von Traumata eine wichtige Rolle spielen, deutlich größer sein muss. Denn neben der rein genetischen Vererbung hat der Umgang der traumatisierten Generation mit den Nachkommen eine sehr große Bedeutung. Mimik, Gestik, Verhalten, all das kann auch unbewusst das Erleben der Nachkommen steuern und dafür sorgen, dass sie Symptome entwickeln, als hätten sie selbst das Leid der Eltern oder Großeltern erlebt. Auch menschliche Beziehungen haben folglich Einfluss auf das Epigenom: Wie viel Zuwendung, Liebe und Geborgenheit erhalten wird, ist ausschlaggebend für die Genaktivität.

Diagnose: Vererbtes Trauma

Es wird deutlich: Traumata scheinen auf vielen Wegen durch mehrere Generationen hinweg bestehen zu können. Es ist immer gut, bei unerklärlichem seelischem und körperlichem Leiden, was nicht auf das eigene Erleben zurückzuführen ist, einen Blick auf die Familiengeschichte zu werfen. Hat noch jemand diese Beschwerden? Wird vielleicht nur nicht darüber gesprochen? Und wie kann jetzt damit umgegangen werden? Für viele Personen können bereits eine Diagnose und das Bewusstsein über die Herkunft der eigenen Schwierigkeiten sehr entlastend wirken.

Auch vererbte Wunden können mit analogen Methoden zu selbst erlebten Traumata behandelt werden:

  • Kognitive Verhaltenstherapie
  • Psychodynamische Psychotherapie

Für Menschen mit transgenerationalen Traumata kann der Alltag besonders herausfordernd sein. Sie erleben oft Ängste oder eine unerklärliche innere Unruhe, die sich auf ihr gesamtes Leben auswirkt. Viele empfinden eine gewisse Last, die sie nicht klar definieren können, da die Ursachen tief in der Familiengeschichte liegen. Durch das Wissen um die familiären Hintergründe wird jedoch oft klar, dass die ‘unsichtbaren Wunden’ der Vorfahren das aktuelle Leben mitbestimmen und das emotionale Wohlbefinden beeinflussen.

Kann sich das Erbgut nach erfolgreicher Behandlung wieder erholen?

Tatsächlich ist diese Frage noch nicht ganz klar zu beantworten. Vielleicht verändern sich die epigenetischen Merkmale wieder bei einer Genesung, vielleicht werden sie auch einfach nur gehemmt und beim Erleben eines erneuten Traumas ist das Risiko zu erkranken wieder um ein vielfaches höher. Es lohnt sich daher, einen kleinen Ausblick in eine Tierstudie zu wagen: Wissenschaftler haben festgestellt, dass sich bei traumatisierten Mäusen, die nach ihrer traumatisierenden Erfahrung betont stressarm lebten und einer abwechslungsreichen Umgebung in sozialen Gruppen ausgesetzt waren, die Symptomatik zurückbildete und auch nicht an die nächste Generation weitergegeben wurde. Es gibt also Hoffnung, dass die Forschung in den nächsten Jahren noch viele weitere Erkenntnisse über die Epigenetik von Traumata machen wird und die Breite an sowohl psychotherapeutischen, als auch pharmakologischen Behandlungsmöglichkeiten zunehmen wird.

Die Erkenntnis über die transgenerationale Weitergabe von Traumata gibt Anlass zur Hoffnung, dass zukünftige Generationen sich von den emotionalen Spuren der Vergangenheit befreien können. Moderne Therapien und die zunehmende wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Thema bieten Betroffenen die Chance, die Lasten der Vorfahren aufzuarbeiten. Indem Menschen ihre Familiengeschichte aufarbeiten und ihre Erfahrungen bewusster reflektieren, können sie verhindern, dass die emotionalen Wunden an die nächste Generation weitergegeben werden. So besteht die Möglichkeit, dass sich auch das Erbgut langfristig wieder erholen kann.

Quellenangaben
  • Gapp, Katharina et al.: Potential of Environmental Enrichment to Prevent Transgenerational Effects of Paternal Trauma. Neuropsychopharmacology (2016), Band 41.
  • Ryann, Joanne et al.: Biological underpinnings of trauma and post-traumatic stress disorder: focusing on genetics and epigenetics. Epigenomics (2016), Band 8.
  • Wolynn, Mark: Dieser Schmerz ist nicht meiner. München, 2017.
  • Yehuda Rachel et al.: Holocaust exposure induced intergenerational effects on FKBP5 methylation. Biological Psychiatry (2015).
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Kategorien: Trauma

Vanessa Graßnickel
Chefärztin, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Vanessa Graßnickel
Dr. med. Vanessa Graßnickel ist eine anerkannte Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie. Nach langjähriger Tätigkeit als Oberärztin übernahm sie 2024 die Position als Chefärztin der LIMES Schlossklinik Fürstenhof in Bad Brückenau. Dr. Graßnickel spezialisiert sich auf verhaltenstherapeutisch basierte Behandlungen und Suchtmedizin, fundiert durch ihr Medizinstudium an der Ruhr-Universität Bochum und einer umfangreichen fachärztlichen Ausbildung an der Universitätsklinik für Psychiatrie in Bochum. In ihrer Rolle als Chefärztin verbindet Dr. Graßnickel modernste diagnostische und therapeutische Methoden mit einer empathischen, respektvollen Patientenbetreuung sowie maßgeschneiderten Therapieplänen.

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